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Nach der heutigen Erziehungsweise der weiblichen Jugend sind alle als Frauen geborenen Genies für das allgemeine Glück verloren. Nur wenn ihnen der Zufall Mittel, sich zu äußern, in die Hand gibt, entwickeln sie die höchsten Fähigkeiten. Ich erinnere in unseren Tagen an Katharina die Zweite, die ihre einzige Erziehung in der Gefahr gehabt hat, an Madame Roland, an Alessandra Mari, die in Arezzo ein Regiment aushob und gegen die Franzosen führte, an die Königin Karoline von Neapel, die besser als Castlereagh den Einfluß des Liberalismus einzuschränken verstand. Das, was der Überlegenheit der Frauen in geistiger Arbeit Einhalt gebietet, habe ich im Kapitel über das weibliche Schamgefühl, Punkt 9, erwähnt.

Welcher Mann hat – in der Liebe oder in der Ehe – das Glück, seiner Lebensgefährtin alle seine Gedanken unverändert mitteilen zu können? Er findet wohl ein gutes Herz, das an seinen Sorgen Anteil nimmt, aber er muß seine Gedanken stets in kleine Münze wechseln, wenn er verstanden sein will. Es wäre auch lächerlich, brauchbare Ratschläge von einem Geist zu erwarten, der zum Verständnis der Dinge der angedeuteten Maßregel bedarf. Die nach heutigen Erziehungsbegriffen vollendetste Frau läßt ihren Gefährten im Drange des Lebens einsam und bald gelangweilt dastehen.

Welchen herrlichen Berater aber könnte der Mann in seiner Frau finden, wenn sie zu denken verstünde, einen Berater, dessen Interessen nicht nur den Lenz des Lebens hindurch in einem einzigen Punkt, sondern in allen Dingen des ganzen gemeinsamen Lebens genau die seinigen wären?


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_232.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)