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ihrem Verdienst nicht entsprechende Art und Weise. Mit zwanzig Jahren umschmeichelt, wird sie mit vierzig Jahren verlassen. Eine fünfundvierzigjährige Frau hat nur mittelbaren Einfluß durch ihre Kinder oder durch ihren Geliebten.

Eine Mutter, die eine bedeutende Künstlerin ist, kann ihren Sohn durch ihre Begabung nur in den seltensten Fällen fördern, wenn er selbst von der Natur eine Künstlerseele empfangen hat. Eine Mutter aber, die geistig gebildet ist, wird nicht nur die schöngeistigen Talente ihres Sohnes ausbilden, sondern auch die Anlagen, die der menschlichen Gesellschaft nützlich sind, und ihm dann die Wahl lassen.

Die Barbarei der Türken hängt größtenteils mit dem Zustande der geistigen Verwilderung der schönen Georgierinnen zusammen. Die jungen, in Paris geborenen Leute verdanken ihren Müttern die unbestrittene geistige Überlegenheit, die sie mit sechzehn Jahren über ihre Altersgenossen in der Provinz haben. Zwischen dem sechzehnten und einundzwanzigsten Jahre wird es gerade umgekehrt.

Die Männer, welche die Buchdruckerei, die Webkunst und anderes erfunden haben, tragen täglich zu unserem Glücke bei, ebenso Montesquieu, Racine, Lafontaine. Nun aber steht die Anzahl der Genies, die ein Volk hervorbringt, in einem gewissen Verhältnis zur Gesamtzahl seiner Männer mit leidlicher Bildung. Wer weiß, ob mein Schuhmacher nicht so viel Seele hat, um wie Corneille zu schreiben; es fehlt ihm aber gewiß die nötige Bildung, um seine Gefühle auszugestalten und mitteilbar zu machen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_231.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)