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zu einer leidlichen Mittelmäßigkeit. Daher das so wahre Sprichwort: Dilettanten sind Ignoranten.

Selbst wenn ein junges Mädchen etwas Begabung gehabt hat, nimmt es nach dreijähriger Ehe höchstens einmal im Monat die Noten oder den Pinsel zur Hand; diese Beschäftigung ist ihm langweilig geworden, außer wenn ihm der Zufall eine Künstlerseele verliehen hat. Aber das kommt selten vor und vereinbart sich auch kaum mit den Haushaltssorgen.

So läßt man die jungen Mädchen unter dem hinfälligen Vormunde der Schicklichkeit in Unkenntnis der Dinge, die sie durch die künftigen Wechselfälle des Lebens leiten könnten; man verbirgt ihnen sogar deren Vorhandensein, leugnet die Wirrsale des Lebens ab und vermehrt sie somit noch durch die Wirkung der Verwunderung und des Mißtrauens, das einst die ganze Erziehung im Lichte der Lüge erscheinen lassen muß. Ich behaupte trotz allem, daß es zu der guten Erziehung eines jungen Mädchens gehört, es auch über die Liebe zu belehren. Wer möchte im Ernst behaupten, daß ein junges Mädchen mit sechzehn Jahren bei unseren heutigen Sitten nichts vom Dasein der Liebe wüßte? Woher stammt aber diese wichtige und heikle Kenntnis? Julie von Etanges gesteht klagend, daß ihr Wissen von einer Kammerzofe herrühre. Man muß Rousseau dankbar sein, daß er in einem Jahrhundert der falschen Scham so wahre Sittenbilder zu malen gewagt hat.

Da die heutige Erziehung der Frauen vielleicht die lächerlichste Geschmacklosigkeit des modernen Europas ist, so sind die Frauen um so mehr wert, je weniger

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_229.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)