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Genüsse. Nach zehn Jahren haben sie ihre Kenntnisse verdoppelt, und niemand wird in Abrede stellen, daß man im allgemeinen mit der geistigen Vervollkommnung immer weniger von solchen Leidenschaften hat, die das Glück anderer beeinträchtigen. Ebenso wird man nicht bestreiten können, daß die Kinder einer Frau, die Gibbon und Schiller liest, geistig besser beanlagt sind, als die einer Frau, die den Rosenkranz abbetet und die Bücher der Frau von Genlis liest.

Ein junger Rechtsanwalt, ein Kaufmann, ein Arzt oder ein Ingenieur kann ohne irgendwelche anfängliche Erfahrung im Leben vorwärtskommen, er findet sie alltäglich in der Ausübung seines Berufes. Aber welche Hilfsquellen bieten sich den Frauen, um wertvolle und notwendige Kenntnisse zu erwerben? In der Einsamkeit ihres Haushaltes bleibt ihnen das große Buch des Lebens und der Notwendigkeit verschlossen. Die drei Goldstücke, die sie alle Montage von ihrem Gatten erhalten, geben sie immer auf die gleiche Weise aus, nachdem sie die Ausgaben der Köchin geprüft haben.

Der unbedeutendste Mann ist mit zwanzig Jahren und in jugendlicher Frische für eine Frau, die von nichts versteht, gefährlich, denn sie folgt nur dem Impuls; in den Augen einer geistvollen Frau wird er nicht mehr Erfolg haben, als ein hübscher Lakai.

Das Lächerliche der heutigen Erziehung liegt darin, daß man den jungen Mädchen nur Dinge lehrt, die sie schnell wieder vergessen müssen, sobald sie verheiratet sind. Sechs Jahre lang sollen sie täglich Musik treiben und zwei Stunden Pastell oder Aquarell malen. Die meisten jungen Mädchen bringen es dabei nicht einmal

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_228.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)