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Frauen, wie man den dummen Männern den Ruhm läßt, zum Geburtstagsfest des Hausherrn ein Tafellied zu verbrechen. Kann man aber geistig regen Frauen, wie Madame Roland oder Mrs. Hutchinson im Ernste zumuten, einen bengalischen Rosenstock aufzuziehen?

Dieser ganze Gedankengang gipfelt schließlich darin, daß man von einem Sklaven sagen möchte: „Er ist zu dumm, um gefährlich zu sein.“

Aber vermöge eines gewissen Gesetzes, das Sympathie heißt, eines Naturgesetzes, das gewöhnlichen Augen verborgen bleibt, schaden die Fehler unserer Lebensgefährtin unserem Glücke nicht deshalb, weil sie uns unmittelbares Unglück bereiten könnten. Mir freilich wäre es lieber, wenn mich meine Frau in einem Wutanfall alle Jahre einmal zu erdolchen versuchte, als wenn sie mich alle Abende mürrisch empfinge.

Schließlich ist unter Leuten, die zusammenleben, das Glück ansteckend.

Mag sich unsere Geliebte den Vormittag, während wir auf dem Exerzierplatze oder im Parlament waren, mit Blumenmalen oder mit dem Lesen eines Shakespeareschen Dramas vertrieben haben: in beiden Fällen waren ihre Vergnügungen unschuldig; nur wird sie uns nach unserer Heimkehr langweilen, wenn sie uns ihre Gedanken beim Malen ihrer Rose erzählt, und obendrein wird sie abends ausgehen wollen, um in der Geselligkeit etwas lebhaftere Eindrücke zu finden. Wenn sie dagegen Shakespeare mit Verstand gelesen hat, dann ist sie so müde, wie wir, und ein einsamer Spaziergang an unserm Arm im Bois de Vincennes wird sie glücklicher machen, als der Besuch der größten

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_222.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)