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57. Über die Erziehung der Frauen

Durch die gegenwärtige Erziehung der jungen Mädchen, die eine Frucht des Zufalls und des dümmsten Dünkels ist, läßt man ihre herrlichsten Fähigkeiten, die ihnen selbst, wie den Männern, das meiste Glück bringen, verkümmern. Welcher Mann hat nicht wenigstens einmal in seinem Leben ausgerufen:

„… eine Frau
Besäße Geist genug, wenn sie ein Wams
Von einem Beinkleid unterscheiden kann.“[1]

In Paris ist das höchste Lob für ein junges heiratsfähiges Mädchen: „Sie hat viel Nachgiebigkeit im Charakter und ist aus Gewohnheit sanft wie ein Lamm.“ Nichts übt mehr Wirkung auf einen dummen Freier aus. Beobachten wir ihn aber zwei Jahre später, wenn er mit seiner Frau an einem trüben Tage beim Frühstück sitzt: er hat eine Hausmütze auf und drei Lakaien stehen herum.

Man hat in den Vereinigten Staaten im Jahre 1818 ein Gesetz erlassen, das denjenigen zu vierunddreißig Peitschenhieben verurteilt, der einen Virginia-Neger im Lesen unterrichtet. Ein sehr richtiges und vernünftiges Gesetz.

Sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika selbst ihrem Mutterlande nützlicher gewesen, da sie noch seine Sklaven waren, als jetzt, wo sie ihm gleichstehen? Wenn die Arbeit eines freien Mannes zwei- oder dreimal mehr wert ist, als die eines Menschen in Sklaverei, warum soll es sich nicht ebenso mit seiner Gesinnung verhalten?


  1. [356] Zitat aus Molière, „Die gelehrten Frauen“, II, 7.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_215.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)