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Schlimmeres. Sie hat sich durch Geld und Geschenke verführen lassen, sie gehört einem und vielen an. Tibull zerbricht endlich die schmachvollen Fesseln und sagt ihr Lebewohl.

Er geht unter die Verehrer der Nemesis und wird nicht glücklicher. Sie liebt nur das Gold und mißt Versen und den Gaben des Genius wenig Wert bei. Nemesis ist eine habsüchtige Frau, die sich dem Meistbietenden hingibt. Er verwünscht ihre Habgier, aber er liebt sie und kann ohne ihre Liebe nicht leben. Er sucht sie durch rührende Bilder zu bändigen. Sie hat eine junge Schwester verloren. Tibull will zu ihrem Grabe gehen und weinen und ihrer stummen Asche seinen Kummer anvertrauen. Der Geist der toten Schwester wird über die Tränen zürnen, die um Nemesis vergossen werden. Diesen Zorn soll Nemesis achten. Das traurige Bild ihrer Schwester wird ihren nächtlichen Schlummer stören … Nemesis ist zu Tränen gerührt. Aber um diesen Preis will der Dichter selbst das Glück nicht erkaufen.

Seine dritte Geliebte ist Neera. Er hat lange ihre Liebe genossen; er bittet die Götter um nichts, als mit ihr leben und sterben zu dürfen. Sie verreist und bleibt fern. Er denkt immer an sie und bittet die Götter nur um sie. Im Traume erscheint ihm Apollo und verkündet ihm, daß Neera abtrünnig ist. Er will diesem Traum nicht Glauben schenken, er könnte solches Unglück nicht überleben, und doch ist das Unglück wahr; Neera ist untreu. Wiederum ist er einsam. Das war der Charakter und das Los Tibulls, das ist der dreifache, recht unglückliche Roman seiner Liebe.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_213.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)