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Die Geliebten dieser großen Dichter waren kokette, untreue und käufliche Frauen; sie suchten nur sinnlichen Genuß, und ich möchte glauben, daß sie niemals eine Ahnung von den erhabenen Gefühlen gehabt haben, die dreizehn Jahrhunderte später das Herz der zartlichen Heloïse bewegten.

Ich entnehme die folgende Stelle dem Werke des vorzüglichen Literaturhistorikers Ginguené („Histoire littéraire de l’Italie“ II, 490), der die lateinischen Dichter viel gründlicher kennt als ich:

„Das glänzende Genie des Ovid, die reiche Phantasie des Properz, die gefühlvolle Seele des Tibull verliehen ohne Zweifel ihren Versen eine verschiedene Färbung, aber alle drei liebten in gleicher Art und Weise Frauen ziemlich gleichen Schlages. Sie begehren, sie siegen, sie haben glückliche Nebenbuhler, sie sind eifersüchtig, sie entzweien und versöhnen sich, sie sind ihrerseits untreu, sie erlangen Verzeihung und sie finden ein Glück wieder, das alsbald durch die nämlichen Wechselfälle von neuem getrübt wird.

„Corinna ist verheiratet. Die erste Lehre, die ihr Ovid gibt, besteht in der Unterweisung, wie sie ihren Gatten hintergehen soll, welche Zeichen sie in Gegenwart ihres Mannes und anderer machen soll, damit sie sich beide heimlich verständigen können. Der Genuß folgt auf dem Fuße; dann gibt es Streit, und was man von einem galanten Manne wie Ovid nicht erwarten sollte, Schmähungen und Schläge; dann wieder Entschuldigungen, Tränen und Verzeihung. Bisweilen wendet er sich an untergeordnete Leute, an Diener, an den Türhüter seiner Geliebten, der ihm nachts die Tür öffnen soll, an eine durchtriebene Alte,

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_207.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)