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sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, ließ sie sich von einem Künstler für hundert Denare ein Standbild des Geliebten machen. Der Künstler fertigte das Bildnis an, und als sie es hatte, stellte sie es an einem Orte auf, zu dem sie täglich pilgerte. Dort küßte sie das Standbild, setzte sich dann zu seinen Füßen und verbrachte den Rest des Tages mit Weinen. Wenn der Abend kam, grüßte sie das Bild und ging heim. So trieb sie es lange Zeit. Da starb der junge Mann. Sie wollte ihn noch einmal sehen und küßte den Toten, dann kehrte sie zu ihrer Bildsäule zurück, grüßte sie, küßte sie wie immer und setzte sich ihr zu Füßen hin. Als der Morgen kam, fand man sie tot, in der Hand ein paar Zeilen, die sie vor ihrem Tode geschrieben hatte. –

Ueddah aus dem Lande Yemen war wegen seiner Schönheit unter den Arabern berühmt. Er und Om-el-Bonain, Tochter des Abd-el-Aziz, Enkelin des Meruan, liebten sich schon als Kinder so, daß sie es nicht ertragen konnten, nur einen Augenblick lang voneinander getrennt zu sein. Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit im Zustande der Verwirrung und des Leidens gelebt hatte, ging er nach Syrien und umschlich täglich die Behausung Ualids, ohne zunächst ein Mittel zur Erreichung seiner Absicht zu finden. Endlich traf er eine junge Sklavin, die er durch Ausdauer und Güte für sich gewann. Als er glaubte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kenne. – „Gewiß, sie ist meine Herrin,“ erwiderte die junge Magd. – „Wohlan,“ fuhr Ueddah fort, „deine Herrin ist meine Base, und wenn du ihr Nachricht von mir bringen willst, bereitest du ihr gewiß

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_204.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)