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Familienleben aber ist der Heuchler der erste Unglückliche. Er hat das Gefühl des Geborgenseins nicht.

Soweit die ältesten geschichtlichen Denkmäler zurückreichen, finden wir die Araber schon im grauen Altertum in eine große Zahl unabhängiger, in der Wüste umherwandernder Stämme geteilt. Je leichter diese Stämme sich mit den einfachsten menschlichen Bedürfnissen abfanden, desto verfeinerter waren ihre Sitten. Die Freigebigkeit war überall gleich, aber je nach dem Wohlstande des Stammes äußerte sie sich im Schenken eines Ziegenviertels, das zum notdürftigen Lebensunterhalt gehörte, oder im Darbieten von hundert Kamelen, wenn Familienbeziehungen oder Gastfreundschaft es erheischten.

Die Heldenzeit der Araber, in der diese hochsinnigen Menschen frei von jeder schöngeistigen oder überfeinerten Unnatürlichkeit hervorragten, ist das Jahrhundert vor Mohammed, das dem fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, also der Zeit der Gründung Venedigs und der Herrschaft Chlodwigs entspricht. Ich bitte ohne Vorurteil, die Liebeslieder, die uns die Araber überliefert haben, und die edle Kultur, die uns in „Tausend und eine Nacht“ geschildert wird, mit den abscheulichen Greueln zu vergleichen, die jedes Blatt Gregors von Tours und Einhards, der Geschichtsschreiber Chlodwigs und Karls des Großen, besudeln.

Mohammed war Puritaner, er wollte den Genuß aus der Welt schaffen, auch wenn dieser niemanden schädigte. Er hat in den Ländern, die den Islam angenommen haben, die Liebe vernichtet. Deshalb hat seine Religion auch weniger in Arabien, ihrer Wiege,

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_198.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)