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Um der Liebe im Menschenherzen den Schein des Idealen zu verleihen, war die möglichste Gleichheit zwischen der Geliebten und dem Liebenden erforderlich. Diese Gleichheit fehlt vor allem in unserem traurigen Abendlande, wo eine verlassene Frau unglücklich und entehrt ist. Unter dem Zelte des Arabers kann die Treue niemals gebrochen werden. Verachtung und Tod würden diesem Vergehen augenblicklich folgen.

Die Freigebigkeit ist diesem Volke so heilig, daß man stehlen darf, um zu geben. Im übrigen sind Gefahren dort alltäglich und das Leben spielt sich gleichsam in leidenschaftsvoller Einsamkeit ab. Selbst zu mehreren vereint, sprechen Araber wenig.

Die Wüstenbewohner kennen keine Abwechselung; alles ist dort ewig und unbeweglich. Ihre sonderbaren Sitten, von denen ich aus Unkenntnis nur ein schwaches Bild zu geben vermag, reichen wahrscheinlich bis ins homerische Zeitalter zurück. Sie sind zum erstenmal gegen das Jahr 600 unserer Zeitrechnung, zweihundert Jahre vor Karl dem Großen, beschrieben worden.

Im Vergleich zum Morgenlande waren wir die Barbaren, als wir es mit unseren Kreuzzügen beunruhigten, und was in unseren Sitten edel ist, verdanken wir den Kreuzzügen und den Mauren in Spanien.

Daß wir uns mit den Arabern vergleichen sollen, wird der prosaische Mensch in seinem Dünkel mitleidig belächeln. Unsere Künste sind den ihren weit überlegen und unsere Gesetzgebung dem Anscheine nach noch mehr, aber ich bezweifle es, ob wir sie in der Kunst des häuslichen Glücks übertreffen. Uns hat es von jeher an Redlichkeit und Einfachheit gefehlt. Im

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_197.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)