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50. In Spanien

Andalusien ist eine der lieblichsten Stätten, welche die Lebensfreude sich auf Erden zum Wohnsitz erwählt hat. Als die Mauren Andalusien verließen, haben sie dort ihre Baukunst und beinahe auch ihre Sitten zurückgelassen. Da ich über letztere unmöglich in der Sprache der Frau von Sévigné sprechen kann, so will ich wenigstens von der maurischen Bauweise erwähnen, daß ihr Hauptmerkmal darin besteht, jedes Haus mit einem kleinen Garten zu versehen, der von eleganten, schlanken Säulen umschlossen wird. Hier unter diesen Säulenhallen herrscht köstlicher Schatten, wenn draußen die unerträgliche Sommerhitze brütet und das Thermometer wochenlang 30° Reaumur zeigt. In der Mitte des Gärtchens befindet sich in der Regel ein Springbrunnen, dessen eintöniges, liebliches Plätschern das einzige Geräusch ist, das diese reizende Heimlichkeit belebt. Das Marmorbecken ist von einem Dutzend Orangen- und Lorbeerbäumen umgeben. Ein dichtes Zelttuch überdeckt das ganze Gärtchen und schützt es gegen die Strahlen und das Licht der Sonne, gestattet aber leichten Brisen, die um Mittag von den Bergen herwehen, das Eindringen.

In diesem Raume leben die reizenden Andalusierinnen und empfangen sie ihre Besuche in einem einfachen schwarzen Seidenkleide, mit gleichfarbigen Fransen besetzt, das einen entzückenden Spann sehen läßt. Ihr Gang ist leicht und lebhaft, ihre Hautfarbe blaß, und in ihren Augen spiegeln sich die flüchtigsten Schattierungen zartester und wildester Leidenschaft. So

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_172.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)