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kommt für die Männer die Notwendigkeit, sich allabendlich stumpfsinnig zu betrinken, statt wie in Italien die Abende mit der Geliebten zu verbringen. In England unternehmen reiche Leute, die sich zu Hause langweilen, unter dem Vorwande einer notwendigen Leibesübung einen vier- bis fünfstündigen Marsch, als ob der Mensch auf die Welt gekommen wäre, um zu laufen. Sie verbrauchen so ihre Nervenkraft mit den Beinen, statt mit dem Herzen. Bei alledem wagen sie von weiblichem Zartgefühl zu sprechen und Spanien und Italien gering zu schätzen.

Niemand hingegen ist beschäftigungsloser, als die jungen Italiener. Alle Bewegung, die ihre Empfindlichkeit beeinträchtigen würde, ist ihnen unangenehm. Höchstens machen sie von Zeit zu Zeit einen halbstündigen Spaziergang, weil er ihrer Gesundheit dienlich ist. Was die Frauen anbetrifft, so läuft eine Römerin im ganzen Jahre weniger, als eine junge Miß in einer Woche.

Mir scheint, daß der Stolz des englischen Ehemannes die Eitelkeit seiner armen Frau sehr geschickt auf die Spitze treibt. Er redet ihr vor allem ein, daß man nie gewöhnlich sein darf, und die Mütter, die ihre Töchter daraufhin zustutzen, einen Gatten zu finden, haben diesen Gedanken gut verstanden. Deshalb ist auch die Mode im vernünftigen England viel geschmackloser und herrischer, als im leichtfertigen Frankreich. In England ist sie eine Pflicht, in Paris ein Genuß. Die Ehemänner gestatten ihren Frauen gern diese aristokratische Narrheit als Entschädigung für den unendlichen Verdruß, den sie ihnen auferlegen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)