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„Der Unterschied zwischen den Deutschen und allen anderen Völkern ist der: Nachdenken beruhigt sie nicht, sondern regt sie auf. Und zweitens trachten sie auf Tod und Leben nach Charakter,

„Das Hofleben, das der Liebe und ihrer Entwickelung anderswo so vorteilhaft ist, stumpft sie in Deutschland ab. Man macht sich keinen Begriff von dem Ozean sinnloser Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, aus denen in Deutschland ein Hof selbst bei den besten Fürsten besteht. (München, 1820.)[1]

„Wenn wir mit unserem Stabe in eine deutsche Stadt einrückten, trafen die Damen der Gegend im Laufe von vierzehn Tagen ihre Wahl, Bei dieser Wahl blieb es. Indessen habe ich sagen hören, die Franzosen seien die Klippe gewesen, an der manche bisher unbescholtene Tugend gescheitert sei.“

Die jungen Deutschen, denen ich in Dresden, Göttingen, Königsberg und anderen Orten begegnet bin, waren im Dunstkreis jener angeblich philosophischen Systeme aufgewachsen, die nichts als dunkle, schlecht geschriebene Poesie, aber in moralischer Hinsicht von hoher und heiliger Erhabenheit sind. Es scheint mir, daß die Deutschen von ihrem Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß wie die Italiener geerbt haben, sondern eine starke Neigung zur Begeisterung und Aufrichtigkeit. Aus diesem Grunde haben sie alle zehn Jahre einen großen Mann, der alle anderen verdunkelt. Ich denke an Kant, Schelling und Fichte.

Luther hat den moralischen Sinn mit mächtiger Stimme aufgerüttelt und die Deutschen haben sich,


  1. [353] Vgl. die „Memoiren der Markgräfin von Baireuth“ und „Mes souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin“ von Thiébault [deutsch von Robert Sulz, Stuttgart, 1902].
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_160.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)