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dieser Heimlichtuerei. Eines Tages sagte der eine zu mir: ‚Ich möchte kein Geheimnis vor Ihnen haben. Eine junge Frau aus der Stadt ist meine Geliebte geworden, unter der Bedingung, daß sie niemals meine Wohnung zu verlassen braucht und daß ich ohne ihre Einwilligung niemanden empfange.‘ Ich war neugierig, diese freiwillige Klausnerin kennen zu lernen, und da mir mein Beruf als Arzt ganz wie im Orient einen anständigen Vorwand gab, nahm ich eine Einladung zum Frühstück bei meinem Freunde an. Ich fand eine sehr verliebte Frau, die eifrig im Haushalt beschäftigt war und trotz des verlockenden Wetters kein Verlangen trug, auszugehen; sie war übrigens überzeugt, daß sie ihr Geliebter mit nach Frankreich nehmen würde.

„Der andere junge Herr, den man niemals in seiner Stadtwohnung antraf, vertraute mir kurz darauf etwas Ähnliches an. Auch seine Schöne sah ich auf gleiche Weise. Sie war blond, sehr hübsch und schön gewachsen.

„Die eine, achtzehn Jahre alt, war die Tochter eines wohlhabenden Tapezierers, die andere, ungefähr vierundzwanzig Jahre alt, die Gattin eines österreichischen Offiziers, der in der Armee des Erzherzogs Johann am Feldzuge teilnahm. Ihre Liebe ging bis zum Heroismus. Ihr Geliebter wurde ihr nicht nur untreu, er kam sogar in die Lage, ihr ein sehr mißliches Geständnis machen zu müssen. Sie pflegte ihn mit vollkommener Hingabe, und durch die schwere Krankheit ihres Geliebten und die Gefahr, in der er schwebte, eng an ihn gefesselt, liebte sie ihn darum nur noch inniger, als vorher.

„Man versteht, daß ich als Fremdling und Eroberer, zumal sich die ganze vornehme Gesellschaft Wiens bei

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_158.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)