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besonders vor seinem Nachbar, falls es diesem einfällt, über den Gegenstand der Bewunderung zu spotten.

In Deutschland, Italien und Spanien hingegen liegt in der Bewunderung Aufrichtigkeit und Glück. Dort ist der Bewunderer auf seine Empfindungen stolz und bedauert den Auszischer; ich sage nicht den Spötter, denn den gibt es nicht in Ländern, wo die einzige Lächerlichkeit die ist, den Weg zum Glück, nicht aber die Nachäffung fremder Manieren, zu verfehlen. Im Süden erzeugt das Mißtrauen und die Befürchtung, im wirklich empfundenen Genuß gestört zu werden, eine angeborene Bewunderung für Luxus und Pracht.[1]

2. Ein Franzose hält sich für den unglücklichsten und lächerlichsten Menschen, wenn er gezwungen ist, einsam zu sein. Aber was ist Liebe ohne Einsamkeit?

3. Ein leidenschaftlicher Mensch denkt nur an sich; ein Mensch, der nach Beachtung trachtet, denkt nur an andere. Mehr noch: vor 1789 fand man in Frankreich persönliche Sicherheit nur, wenn man einem Stande, zum Beispiel dem Richterstande, angehörte und von den Angehörigen dieses Standes beschützt wurde.[2] – Die Meinung eines Nachbarn war also ein wesentlicher und notwendiger Teil des Glückes. Am Hofe war das noch mehr der Fall, als in der Stadt Paris.

Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluß solche Anschauungen, – die allerdings nach und nach außer Kraft treten, doch in Frankreich noch für ein Jahrhundert ausreichen, – auf die großen Leidenschaften ausüben.


  1. [350]Voyage en Espagne“ von Semple. Er schildert wahrheitsgetreu und man findet bei ihm eine eindrucksvolle [351] Schilderung der Schlacht von Trafalgar, obwohl er sie nur von fern sah.
  2. [351] Grimms Korrespondenz, Januar 1783: „Am Eröffnungstage des neuen Hauses war Graf N***, Kapitän auf Lebenszeit in der Garde von Monsieur [dem Bruder des Königs], entrüstet, daß er keinen Balkonplatz mehr frei fand. Er kam auf den bösen Einfall, einem ehrsamen Rechtsanwalt seinen Platz streitig zu machen. Dieser, Maître Parnot, wollte auf keinen Fall weichen. ‚Sie nehmen mir meinen Platz!‘ sagte er. – ‚Das ist meiner!‘ – ‚Wer sind Sie eigentlich?‘ – ‚Ich bin Herr Sechs-Franken‘ [das ist der Billetspreis]. Ein lebhafter Wortwechsel, Beleidigungen und Stöße mit dem Ellenbogen folgten. Graf N*** trieb seine Rücksichtslosigkeit so weit, den armen Rechtsverdreher ‚Dieb‘ zu schimpfen, und vermaß sich zu guter Letzt, ihn durch den diensthabenden Schutzmann festnehmen und auf die Wache bringen zu lassen. Maître Parnot begab sich mit großer Würde dahin und reichte sofort nach seiner Wiederentlassung Klage bei Gericht ein. Die furchtbare Kaste, der anzugehören er die Ehre hatte, wollte von einer Zurücknahme der Klage nichts wissen. Die Angelegenheit kam vor das Parlament. Graf N*** wurde in die Kosten verurteilt, mußte dem Rechtsanwalt Genugtuung geben und ihm 2000 Taler Entschädigung zahlen. Diese Summe wurde mit seiner Einwilligung den armen Gefangenen der Conciergerie überwiesen. Außerdem wurde genanntem Grafen dringend ans Herz gelegt, die [352] königlichen Orders in Bezug auf Ruhestörungen im Theater besser zu beachten. Der Vorfall wirbelte viel Staub auf, da öffentliche Interessen davon berührt wurden. Der ganze Richterstand hielt sich für bedroht, weil ein Träger des Amtskleides beleidigt worden war. Um die Geschichte in Vergessenheit zu bringen, suchte Herr von N*** auf dem Schlachtfeld von Saint-Roche Lorbeeren. Er konnte nichts Besseres tun, meinte man, um sein Talent zur Eroberung vielumstrittener Plätze in Geltung zu bringen.“ Man stelle sich einen unbekannten Philosophen an Stelle des Advokaten vor und entnehme daraus die Nützlichkeit des Duells. Siehe auch weiterhin auf Seite 496 eine recht verständige Ablehnung von Beaumarchais, der einem seiner Freunde eine vergitterte Loge zum „Figaro“ versprochen hat und sie darum einem anderen ausschlägt. Solange man glaubte, diese Antwort richtete sich gegen einen Herzog, war das Geschrei groß, und man sprach bereits von schweren Strafen. Als Beaumarchais aber erklärte, daß sein Brief nur an den Gerichtspräsidenten Dupaty gerichtet sei, lachte alles. Wir verstehen diese Empfindungsart nicht mehr. Und doch mutet man uns dieselben Trauerspiele zu, die jenen Menschen gefielen.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_144.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)