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41. In Frankreich

Ich suche mich von jeglichem Vorurteil frei zu machen und nichts als kalter Philosoph zu sein.

In Frankreich sind die Frauen durch die Erziehung der liebenswürdigen Franzosen, die nur Eitelkeit und sinnliches Begehren kennen, weniger tatkräftig, weniger energisch, weniger gefürchtet und besonders weniger geliebt, als die Frauen Spaniens und Italiens.

Die Macht einer Frau steht im unmittelbaren Verhältnis zu dem Unglück, das sie über ihren Geliebten zu bringen vermag. Wenn jedoch allein die Eitelkeit entscheidet, so ist eine Frau höchstens nützlich, niemals notwendig. Das Schmeichelhafte des Erfolgs aber liegt im Erringen, nicht im Besitzen. Für lediglich sinnliche Bedürfnisse gibt es Dirnen, und nicht ohne Grund sind die Dirnen Frankreichs reizend, die Spaniens höchst übel. In Frankreich können Dirnen den meisten Männern ebensoviel Glück gewähren, als ehrbare Frauen, das heißt Glück ohne Liebe, und etwas schätzt ein Franzose immer höher als seine Geliebte: seine Eitelkeit.

Ein junger Pariser sieht in der Geliebten eine Art Sklavin, die vor allem den Zweck hat, ihm die Freuden der Eitelkeit zu gewähren. Wenn sie den Geboten dieser maßgebenden Leidenschaft nicht mehr entspricht, verläßt er sie und ist obendrein noch sehr zufrieden mit sich selbst, wenn er seinen Freunden erzählen kann, auf welche überlegene Weise und unter welchen pikanten Umständen er sich ihrer entledigt hat.

Ein Franzose, der sein Land sehr gut kennt, sagt:

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_139.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)