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Alters und schließlich die individuellen Eigentümlichkeiten hinzu.

Zum Beispiel könnte ich sagen:

Ich habe in Dresden beim Grafen Wolfstein die Liebe aus Eitelkeit, das melancholische Temperament, die monarchische Lebensweise, das Alter von dreißig Jahren und gewisse individuelle Eigentümlichkeiten gefunden.

Diese Art, die Dinge zu sehen, kürzt ab und ermöglicht, was unerläßlich und sehr schwer ist, ein unparteiisches Urteil.

Wie aber der Mensch in der Physiologie fast nichts über sich selbst weiß, außer durch die vergleichende Anatomie, so können wir bei den Leidenschaften, der Eitelkeit und verschiedenen anderen Ursachen von Illusionen, über das, was in uns vorgeht, nur durch die Schwächen aufgeklärt werden, die wir an anderen beobachtet haben. Wenn mein Buch überhaupt irgend einen Nutzen bringen sollte, so wäre es der, daß es zu solchen Vergleichen anregt. Um das zu tun, will ich versuchen, einige Hauptzüge des Charakters der Liebe bei den verschiedenen Völkern zu skizzieren.

Wenn ich dabei häufig Italien erwähne, so bitte ich um Nachsicht; bei dem gegenwärtigen Sittenzustande von Europa ist es das einzige Land, wo sich die von mir beschriebene Pflanze in voller Freiheit entwickelt. In Frankreich ist es die Eitelkeit, in Deutschland eine anspruchsvolle, höchst lächerliche Philosophie, in England ein ängstlicher, leidender, rachsüchtiger Stolz, der die echte Liebe quält und unterdrückt oder in eine barocke Richtung drängt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_138.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)