Seite:Ueber die Liebe 124.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


liegt das einfach daran, daß die Leute, die der Haß trennt, nicht eng zusammenleben müssen. Wie ist das aber in der Liebe, wo jene Überlegenheit, besonders von seiten des Überlegenen, natürlicherweise nicht durch soziale Vorsichtsmaßregeln verdeckt wird?

Um die Leidenschaft rege zu erhalten, muß der Unterlegene den andern schlecht behandeln, sonst kann dieser nicht das Geringste mehr tun, ohne daß sich jener beleidigt fühlt.

Der Überlegene hingegen macht sich Illusionen. Seine Liebe ist nicht der geringsten Gefahr ausgesetzt, denn alle Schwächen an einem geliebten Menschen machen ihn uns nur teurer.

Unmittelbar nach der Liebe aus Leidenschaft kommt bei Menschen von gleichen geistigen Fähigkeiten in Hinsicht auf die Dauer die streitsüchtige Liebe, in welcher der Streitsüchtige nicht liebt. Beispiele hierzu liefern die Anekdoten von der Herzogin von Berri in den Memoiren von Duclos.

Die streitsüchtige Liebe kann länger währen, als selbst die Liebe aus Leidenschaft, weil sie ihrer Natur nach eng mit den kalten Gewohnheiten verbunden ist, die den prosaischen und selbstsüchtigen Elementen im Menschen entsprechen und bis zum Grabe seine unzertrennlichen Begleiter sind. Aber sie ist keine richtige Liebe mehr, sondern eine von der Liebe gezeitigte Gewohnheit, die mit jener Leidenschaft nichts als die Erinnerung und den sinnlichen Genuß gemeinsam hat. Diese Gewohnheit bedingt immer eine unedle Seele. Tagtäglich spielt sich ein kleines Schauspiel: „Wird er mich schelten?“ ab, durch das die Phantasie gerade so beschäftigt wird, wie in der Liebe aus Leidenschaft, wo

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_124.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)