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zu. Sie liebte leidenschaftlich, wenigstens dem Anscheine nach, einen jungen Offizier, von dem ihre Familie nichts wissen wollte. Der junge Mann ging mit Morillo nach Amerika. Sie schrieben sich ohne Unterlaß. Eines Tages, während einer großen Gesellschaft bei der Mutter Dianas, platzte ein Dummkopf mit der Nachricht vom Tode jenes liebenswürdigen jungen Mannes heraus. Aller Augen wandten sich nach Diana; sie sagte nur die Worte: „Wie schade, so jung!“ Wir hatten gerade an diesem Tage ein Stück des alten Massinger gelesen, das tragisch schließt, in dem aber die Heldin mit solcher scheinbaren Ruhe den Tod ihres Geliebten aufnimmt. Ich sah, wie die Mutter trotz ihres Stolzes und Hasses zitterte; der Vater ging hinaus, um seine Freude zu verbergen. Inmitten alles dessen und der fassungslosen Zuschauer, die den dummen Erzähler anstarrten, fuhr Donna Diana in völliger Ruhe fort, weiter zu plaudern, als wenn nichts gewesen wäre. Ihre erschreckte Mutter ließ sie durch ihre Kammerfrau beobachten, es schien sich an ihrem Wesen nichts geändert zu haben.

Zwei Jahre später machte ihr ein sehr schöner junger Mann den Hof. Auch diesmal und wieder aus dem gleichen Grunde, weil der Freier nicht adlig ist, waren die Eltern entschieden gegen diese Heirat; Diana erklärte, daß sie stattfinden werde. Es entwickelte sich der Ehrgeiz der Eigenliebe zwischen dem jungen Mädchen und ihrem Vater. Man verbot dem jungen Manne das Haus; man ließ Diana nicht mehr aufs Land und kaum noch in die Kirche; man nahm ihr mit peinlicher Sorgfalt alle Möglichkeiten, ihrem Geliebten zu begegnen. Er verkleidete sich und sah

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)