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In Frankreich ist eine kleine Geschichte von Fräulein von Sommery allbekannt, die, von ihrem Geliebten auf frischer Tat ertappt, ihm den Vorfall kühn abstritt und, als er darauf nicht eingehen wollte, sagte: „Ah, nun sehe ich klar, du liebst mich nicht mehr, denn du traust deinen Augen mehr, als meinen Worten!“

Eine Wiederaussöhnung mit einer angebeteten Geliebten, die uns untreu war, heißt eine in uns immer wieder auflebende Leidenschaft mit Dolchstößen zerstören. Die Liebe muß sterben, mag auch dabei unser Herz mit gräßlichen Schmerzen alle Stadien des Todeskampfes durchmachen. Das ist die unglücklichste Mischung der Liebesleidenschaft mit dem Leben. Man müßte die Kraft haben, der Geliebten fortan nur noch ein Freund zu sein.


35. Von der Eifersucht bei den Frauen

Ich komme zu der Eifersucht bei den Frauen. Sie sind mißtrauisch, sie setzen viel mehr aufs Spiel, als wir Männer, sie bringen der Liebe größere Opfer, sie haben weniger Zerstreuungen und vor allem weniger Mittel, die Handlungen ihres Geliebten auf die Wahrheit hin zu prüfen. Eine Frau fühlt sich durch die Eifersucht erniedrigt; sie glaubt sich im Verdachte, als ob sie einem Manne nachliefe; sie fürchtet, daß sie ihrem Geliebten zum Gespött werde und daß er sich gar über ihre zärtlichsten Äußerungen lustig mache. Sie muß auf Grausamkeit geraten, zumal sie ihre Nebenbuhlerin nicht mit gesetzlichen Mitteln umbringen kann.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_113.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)