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Es ist leicht, im Ehrgeiz Mut zu haben. Die Kristallbildung, die durch die Sehnsucht nach dem Ziele nicht unterdrückt wird, dient dazu, den Mut zu festigen; in der Liebe steht sie ganz im Dienste des Wesens, dem gegenüber man gerade Mut haben sollte.

Eine Frau kann eine treulose Freundin finden, aber auch eine gelangweilte. Eine vornehme Dame von fünfunddreißig Jahren, die sich langweilt und von dem Bedürfnis gequält wird, etwas zu tun, und sei es zu intriguieren, die mißvergnügt über die Lauheit ihres Geliebten und ohne Aussicht auf eine neue Liebe ist, weiß nicht, was sie aus ungestümer Tatenlust anfangen soll. Sie hat keine andere Zerstreuung, als Anfälle schlechter Laune, und kann sehr leicht eine Beschäftigung, das heißt ein Vergnügen, einen Daseinszweck darin finden, einer wahren Leidenschaft verderblich zu werden, einer Leidenschaft, die ein Unbedachter für eine andere hegt, während ihr eigener Geliebter an ihrer Seite eingeschlafen ist.

Das ist der einzige Fall, wo Haß Glück bereitet, weil er für Arbeit und Beschäftigung sorgt.

Anfangs verleiht das Vergnügen, überhaupt etwas zu tun, dieser Beschäftigung Reiz; dann, sobald sie in der Gesellschaft Argwohn erweckt hat, verleiht der Ehrgeiz ihr den Kitzel. Die Eifersucht auf eine Freundin verwandelt sich in Haß gegen ihren Geliebten. Wie könnte sonst eine Frau auch einen Mann, den sie nie gesehen hat, bis zur Wut hassen? Sie hütet sich, den Neid einzugestehen, denn zuvor müßte sie den Wert der anderen anerkennen. Es gibt Schmeichler, die sich nur dadurch bei Hofe behaupten, daß sie die gute Freundin lächerlich machen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_101.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)