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Einfluß auf das Denken und Tun eines Mannes; er steht bei jeder Gelegenheit über ihr. Auf allen Blättern im Lebensbuche eines kalten Menschen steht dasselbe; nehmt seine Hand heute, nehmt sie morgen, sie fühlt sich immer gleich an.

Ein feinfühliger Mann, dessen Herz erregt ist, findet in sich nicht mehr die Richtschnur der Gewohnheit, die seine Handlungen leitet; wie kann er also einen Weg einschlagen, von dem er nichts weiß? Er fühlt die ungeheure Wichtigkeit jedes einzelnen Wortes, das er zu der Geliebten spricht; es scheint ihm, daß ein einziges Wort sein Schicksal entscheiden kann. Sollte er da nicht versuchen, schön zu sprechen? Oder es nicht wenigstens fühlen, wenn er schön spricht? Aber dann gibt es schon keine Aufrichtigkeit mehr. Dann darf man keinen Anspruch auf Aufrichtigkeit erheben, jene Eigenschaft der Seelen, die sich nicht in sich zurückziehen. Man ist, was man kann, aber man fühlt, was man ist.

Ich glaube, daß wir damit bei dem äußersten Grade der Natürlichkeit angelangt sind, den das feinfühligste Herz in der Liebe erstreben kann.

Ein leidenschaftlicher Mann kann nur mit Aufbietung aller Kraft, gleichsam als letzte Rettung im Sturme, das Gelübde tun, niemals von der Wahrheit irgendwie abzuweichen und allezeit aufrichtig dem Zuge des Herzens zu folgen. Ist das Gespräch mit der Geliebten lebhaft und wechselnd, so darf er auf Augenblicke schöner Natürlichkeit hoffen, sonst kann er nur in solchen Stunden natürlich sein, wo er nicht allzu überschwenglich liebt.

In der Nähe der Geliebten ist man nicht einmal

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_098.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)