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sofort ihr ganzes Glück und verleitet sie zu Mißtrauen.

Ehrbare Frauen empfinden Widerwillen vor allem Ungestüm und aller Überraschung, obgleich darin Kennzeichen der Leidenschaft liegen. Abgesehen davon, daß das Ungestüm ihr Schamgefühl verletzt, suchen sie sich auch vor ihm zu schützen.

Wenn uns Eifersucht oder Mißfallen die Geliebte etwas entfremdet haben, kann man im allgemeinen über solche Dinge zu sprechen beginnen, die eine der Liebe günstige Stimmung hervorrufen. Nach den ersten einleitenden Sätzen muß man Gelegenheit finden, genau das zu sagen, was einem die Seele zuflüstert, und man wird der Geliebten große Freude bereiten. Es ist ein Irrtum der meisten Männer, daß sie lieber irgend einen hübschen, geistreichen oder rührenden Gedanken anbringen wollen, als der Seele aus ihren Fesseln heraus zu jener Aufrichtigkeit und Natürlichkeit zu verhelfen, in der sie naiv ausspricht, was sie gerade empfindet. Wenn man dazu den Mut hat, wird man alsbald den Lohn in der Wiederversöhnung empfangen.

Solche schnelle und unbeabsichtigte Belohnung für eine der Geliebten bereiteten Freude erhebt diese Leidenschaft weit über alle anderen.

Bei völliger Natürlichkeit wird das Glück zweier Menschen eins. Infolge der Zuneigung und anderer Gesetze unserer Natur ist es einfach das größte Glück, das es gibt.

Es ist keineswegs leicht, die Bedeutung des Wortes „Natürlichkeit“, der notwendigen Vorbedingung des Liebesglückes, klar auszudrücken. Unter „natürlich“

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_096.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)