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bezaubernde Dinge, er spricht eine Sprache, die er nicht gelernt hat.

Es ist ein Unglück für einen Mann, im geringsten affektiert zu sein. Selbst wenn er liebt und wenn er noch so geistvoll ist, verliert er damit drei Viertel seiner Vorzüge. Läßt man sich auch nur einen Augenblick zur Geziertheit verleiten, so entsteht in der nächsten Minute immer das Gefühl der Leere.

Die ganze Liebeskunst beruht meiner Ansicht nach darauf, immer genau den im Augenblick richtigen Gefühlston zu treffen, das heißt mit anderen Worten, seiner Seele Gehör zu geben. Das ist keineswegs leicht. Wenn ein Mann liebt und seine Geliebte sagt ihm etwas wahrhaft Beglückendes, so hat er nicht mehr die Kraft, ihr zu antworten. Diese Art von Schüchternheit ist der Prüfstein der Liebe aus Leidenschaft bei einem geistig hervorragenden Manne. Er verliert dadurch die Wirkung der unausgesprochenen Worte. Aber es ist besser, zu schweigen, als zu ungelegener Zeit Zärtliches zu sagen. Was vor zehn Sekunden angebracht gewesen wäre, ist es jetzt nicht mehr und wird zum Fehler. Allemal, wenn ich gegen diese Regel sündigte, indem ich etwas sagte, was mir drei Minuten vorher in den Sinn gekommen war und was ich hübsch fand, ließ die Geliebte es mich büßen. Beim Weggehen sagte ich mir jedoch: sie hat recht. Das gehört zu den Dingen, die eine feinfühlige Frau auf das ärgste verletzen müssen, es ist eine Unanständigkeit des Gefühls. Lieber sehen sie eine gewisse Schwäche und Kälte nach. Da sie nichts in der Welt mehr fürchten, als die Falschheit des Geliebten, raubt ihnen die kleinste und geringste Unaufrichtigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_095.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)