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Park; er eilt ihr nach, das Herz schlägt ihm heftig; er trifft sie, sie gibt ihm die Hand und begrüßt ihn verwirrt: da sieht er, daß sie ihn liebt. Wie sie zusammen durch die Alleen des Parkes wandeln, bleibt Jennys Kleid an einem Akazienstrauch hängen. Späterhin, nach einer Zeit des Glücks für Mortimer, wurde Jenny ihm untreu. Ich behauptete ihm gegenüber, Jenny habe ihn nie geliebt. Als Beweis ihrer Liebe schilderte er mir nun die Art und Weise, wie sie ihn nach seiner Rückkehr vom Kontinent empfangen hatte. Irgend welche Einzelheiten konnte er freilich nicht anführen. Er zuckte aber jedesmal zusammen, sobald er einen Akazienstrauch sah. Das war in der Tat die einzige deutliche Erinnerung, die er an die glücklichste Stunde seines Lebens bewahrt hatte.

Ein feinsinniger und freimütiger Mensch, ein ehemaliger Offizier, hat mir heute Abend die Geschichte seiner Liebe anvertraut, während ein Unwetter unsere Barke auf dem Gardasee hin- und hertrieb. Ich will sein Vertrauen nicht weiter ausbeuten. Aber mit Recht entnehme ich seinen Bekenntnissen, daß der Augenblick der Hingabe jenen schönen Tagen im Mai gleicht, der köstlichen Zeit der schönsten Blumen. Es ist ein schicksalsvoller Augenblick, der mit einem Male die schönsten Hoffnungen brechen kann.

Man kann nicht genug die Natürlichkeit loben. Sie ist die einzige erlaubte Koketterie in einer ernsten Liebe, einer Wertherschen Leidenschaft, von der man nicht weiß, wohin sie führt. Gleichzeitig ist sie – ein glücklicher Zufall für die Tugend – die beste Taktik. Ein von echter Leidenschaft ergriffener Mann sagt ahnungslos

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_094.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)