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Farbe des letzten Zusammenseins mit der geliebten Frau trug. Oft beobachtete ich, daß das Glück, das er aus einem anscheinend weniger kühlen Empfang schöpfte, im Vergleich zu seiner Traurigkeit über einen kalten Empfang, an Heftigkeit viel geringer war. Frau *** war mitunter auch nicht offen genug gegen ihn. Beides wagte ich ihm jedoch niemals vorzuhalten. Abgesehen davon, daß sein Schmerz ihm sehr tief ging und er ihn aus Zartgefühl niemandem, selbst seinen besten und selbstlosesten Freunden nicht, mitteilte, sah er in einem kühlen Empfang seiner Freundin den Sieg der prosaischen und ränkesüchtigen Seelen über die offenen und edelmütigen. Dann zweifelte er an der Tugend und besonders am Ruhme. Zu seinen Freunden sprach er nur noch von der traurigen Erkenntnis der Wahrheit, die er seiner Leidenschaft verdankte und die für den Philosophen einen gewissen Wert hatte. Neugierig beobachtete ich diesen seltsamen Menschen. Gewöhnlich findet man die Liebe aus Leidenschaft bei Leuten, die nach deutscher Art ein wenig einfältig sind, wie Schillers „Don Carlos“ oder Rousseaus „Saint-Preux“ oder Racines „Hippolyte“ und „Bajazet“. Er hingegen war einer der charakterfestesten und gescheitesten Männer, die ich je kennen gelernt habe.

Ich glaube, er war nach einer kalten Aufnahme nur dann ruhig, wenn er Leonores kühles Benehmen rechtfertigen konnte. Sobald er fand, daß sie kein Recht hatte, ihn schlecht zu behandeln, war er trostlos unglücklich. Nie hätte ich eine jeder Eitelkeit so bare Liebe für möglich gehalten.

Unaufhörlich erging er sich vor uns in Lobpreisungen der Liebe. „Wenn mir eine übermenschliche Kraft

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_089.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)