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versunken. Den ganzen Abend habe ich mich mit der Frage gequält: „Hat sie in ihrer großen, so wenig begründeten Ungnade (wollte ich sie denn verletzen und gibt es in der Welt keine Entschuldigung dafür?) endlich wieder einen Augenblick Liebe für mich gefühlt?“

Der Unglückliche, der obige Bekenntnisse in seinen Petrarca geschrieben hat, ist bald darauf gestorben. Er war mein und Schiassettis bester Freund. Wir kannten alle seine Gedanken. Von ihm stammt, was in meinem Buche trübsinnig ist. Er war die eingefleischte Unklugheit. Übrigens war auch die Frau, derentwegen er so viele Torheiten beging, das interessanteste Wesen, das mir je begegnet ist. Schiassetti sagte mir: „Glauben Sie denn, daß diese unglückliche Leidenschaft nur Nachteile für ihn gehabt hat? Zunächst lebte er in den denkbar schlechtesten Geldverhältnissen. Dieses Unglück, das ihn nach einer verwöhnten Jugendzeit von einem sehr mäßigen Vermögen abhängig machte, hätte ihn unter allen anderen Umständen zur Verzweiflung gebracht; so aber empfand er es kaum alle zwei Wochen einmal. Zweitens war diese Leidenschaft, was für einen Menschen von seiner geistigen Bedeutung ungleich wichtiger war, die erste richtige logische Schule, die er durchmachte. Das klingt sonderbar bei einem Manne, der am Hofe verkehrt hat, aber es erklärt auch seinen verwegenen Mut. Ohne mit einer Wimper zu zucken, hat er jene Stunde über sich ergehen lassen, die ihm alles raubte. Er war nur darüber erstaunt, wie einst im russischen Feldzuge, daß er keine außergewöhnlichen Empfindungen dabei hatte. Tatsächlich hat er niemals etwas so sehr gefürchtet,

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_087.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)