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seine Kraft verletzt hat. Die Macht dieses Genusses hebt sie über jede Furcht hinaus, gerade in Augenblicken, wo der Mann Schwäche zeigt. Wenn ein Mann auch einen derartigen Rückhalt zu solchem Zeitpunkte hätte, würde er jeder Lage gewachsen sein. Denn die Furcht liegt nicht in der Gefahr, sondern in uns selbst.

Ich versuche durchaus nicht, den Mut der Frauen herabzusetzen. Ich weiß Fälle, wo er sie den tapfersten Männern überlegen macht. Nur müssen sie einen Mann haben, den sie lieben. Da sie nur durch ihn empfinden, so wird selbst die unmittelbare, persönliche Gefahr, mag sie noch so furchtbar sein, zur Rose, die sie in seiner Gegenwart brechen. So schildert Schiller die Maria Stuart. Auch bei Frauen, die nicht liebten, habe ich die kälteste, bewundernswerteste Unerschrockenheit gefunden; es war, als ob sie gar keine Nerven hätten. Ich glaube allerdings, sie wären nicht so tapfer, wenn sie wüßten, was es heißt, verwundet zu werden.

Der seelische Mut aber, der dem gewöhnlichen weit überlegen ist, zeigt sich in der Festigkeit einer Frau, die ihrer Liebe widersteht; er ist das Bewundernswürdigste, was es auf Erden gibt. Alle anderen Beweise des Mutes sind hinfällig im Vergleich zu einem so sehr unnatürlichen und schmerzlichen Unterfangen. Vielleicht nehmen sie die Kraft dazu aus derselben Opferfreudigkeit, die ihnen die Schamhaftigkeit zur Pflicht macht.

Zum Unglück der Frauen bleiben die Beweise ihres Mutes meist verborgen und entziehen sich meist auch der Mitteilbarkeit, und zu ihrem noch größeren Unglück

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_080.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)