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Neuntens: Wenn Frauen schreiben, sie erreichen daher nur sehr selten einen erhabenen Ton. Ihre kleinsten Briefchen aber sind immer gefällig, weil sie nie wagen, ganz offen zu sein. Offen sein ist für sie dasselbe, wie ohne Hut ausgehen. Bei einem Manne dagegen kommt es sehr häufig vor, daß er ganz im Banne seiner Einbildungskraft schreibt, ohne an die Folgen zu denken.

Was folgt daraus?

Es ist ein verbreiteter Fehler, die Frauen als edlere und beweglichere Geschöpfe anzusehen, mit denen wir Männer nicht wetteifern könnten. Zu leicht vergessen wir, daß es zwei neue und eigenartige Gesetze sind, die außer den allgemein menschlichen Motiven jene beweglichen Wesen völlig beherrschen: der weibliche Stolz und die Schamhaftigkeit und die oft unverständlichen Gewohnheiten, die diese zur Folge haben.


26. Die Augensprache

Die Augen sind die Hauptwaffe der tugendsamen Koketterie. Mit einem einzigen Blicke läßt sich alles sagen, und doch kann man alles wieder ableugnen, denn Blicke sind keine Worte.

Das erinnert mich an den Grafen G***, den Mirabeau Roms. Die kleine liebenswürdige Regierung des Kirchenstaates hatte ihn eine eigenartige Redeweise gelehrt: er bewegte sich nur in abgerissenen Sätzen, die alles und nichts sagen konnten. Man verstand sehr wohl, was er meinte; aber wenn man seine Worte noch so wörtlich wiederholte, konnte ihn doch niemand dadurch bloßstellen. Der Kardinal Lante pflegte von

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_070.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)