Seite:Ueber die Liebe 067.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Zu gunsten dieses künftigen Geliebten, den sie vielleicht niemals finden wird, behandelt manche Frau jeden Mann, mit dem sie spricht, mit Kälte. Dies ist die erste und zwar achtbare Übertreibung der Schamhaftigkeit; eine andere entspringt dem weiblichen Stolze, die dritte dem ihres Gatten.

Ich glaube, daß sich die Liebe oft in die Träumereien selbst der tugendhaftesten Frauen einschleicht. Sie haben das Recht dazu. Nicht zu lieben, wenn man vom Himmel mit einer für die Liebe geschaffenen Seele begnadet worden ist, heißt sich und andere eines großen Glückes berauben. Ebenso dürfte ein Orangenbaum aus Furcht, eine Sünde zu begehen, nicht blühen; und eine für die Liebe erschaffene Seele ist nicht imstande, ein andres Glück mit Freude zu genießen. Sie findet in den sogenannten Vergnügungen der Gesellschaft bald eine unsagbare Nichtigkeit. Oft meint sie, die Künste und die Schönheiten der Natur zu lieben, aber diese bestärken und steigern nur ihre Liebessehnsucht, und sie wird bald gewahr, daß alles Schöne in der Welt nur von dem Glücke redet, das sie sich versagen wollte.

Das einzige Tadelnswerte an der Schamhaftigkeit ist, daß sie zur gewohnheitsmäßigen Lüge verleitet. In dieser Hinsicht hat die leichtsinnige Frau einmal etwas vor der feinfühligen voraus. Eine leichtfertige Frau sagt: „Lieber Freund, sobald Sie mir gefallen, werde ich es Ihnen sagen, und ich werde mehr Freude daran haben, als Sie, denn ich schätze Sie sehr hoch.“

Eine meiner Freundinnen rief nach dem Siege ihres Geliebten in lebhafter Selbstzufriedenheit aus: „Wie

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_067.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)