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Man hat das verworrene Gefühl, daß der Zwang, sich vor Dummheiten in acht zu nehmen, das Blut etwas abkühlt, aber man vergißt dabei, daß die Besuchsstunde zu Ende geht und man das Unglück hat, sie auf vierzehn Tage verlassen zu müssen.

Wenn zufällig irgend ein langweiliger Mensch bei ihr sitzt und fade Geschichten auftischt, so ist der arme Verliebte in unverständlicher Narrheit ganz Ohr, als ob es ihm darauf ankäme, so kostbare Augenblicke zu vergeuden. Die Stunde, die er sich so hold gedacht hatte, verrinnt mit Blitzesschnelle, und dabei lassen ihn mit unsagbarer Bitternis tausend Kleinigkeiten fühlen, wie fremd er der Geliebten geworden ist. Er sieht sich inmitten von gleichgiltigen Menschen, die ihr Besuch machen, und findet, daß er der einzige ist, der nicht über alle Einzelheiten ihrer Erlebnisse in den letzten Tagen Bescheid weiß. Endlich erhebt er sich, und während er sich kalt empfiehlt, überkommt ihn das schmerzvolle Bewußtsein, sie erst in vierzehn Tagen wiederzusehen. Kein Zweifel, er würde weniger leiden, wenn er die Geliebte nie wieder sehen sollte. So und noch qualvoller ging es dem Herzog von Policastro, der alle halbe Jahre eine Reise von hundert Meilen unternehmen mußte, um in Lecce eine angebetete, aber eifersüchtig bewachte Geliebte auf eine Viertelstunde zu sehen.

Hieraus sieht man recht, daß der Wille keinen Einfluß auf die Liebe hat. Wie würde sonst jemand so toll sein, Gleichgiltigkeit zur Schau zu tragen, wenn er in der höchsten Aufregung über die Geliebte und über sich selbst ist? Der einzige Erfolg eines solchen Besuches ist eine Erneuerung der Kristallbildung.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_058.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)