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durfte. Diese seltenen und heißersehnten Besuche machten ihn wie wahnsinnig, und nur durch seine große Charakterstärke verbarg er diese Anfälle nach außen.

Schon zu Beginn des Besuches beeinträchtigt einen der Gedanke an das Ende zu sehr, um richtig in die genießende Stimmung zu kommen. Man spricht viel, ohne zu hören, was man spricht; oft sagt man das Gegenteil von dem, was man denkt. Man verwickelt sich in Sätze, die man plötzlich wegen ihrer Lächerlichkeit abbrechen muß, wenn man wieder zu Vernunft und Sammlung kommt. Die Gewalt, die man sich antut, erweckt den Anschein der Kälte. Die Liebe verleugnet sich durch ihr eigenes Übermaß.

Fern von diesem Zustande, malte sich vorher die Phantasie die reizvollsten Plaudereien aus, man empfand die zärtlichsten und rührendsten Wallungen. Tagelang glaubte man an seinen Mut, so zu der Geliebten sprechen zu können. Aber am Tage vor dem erträumten Glück beginnt die Unruhe, und sie wächst in dem Maße, wie der gefürchtete Zeitpunkt sich nähert.

In dem Augenblick, wo man das Zimmer der geliebten Frau betritt, klammert man sich, um nicht die größten Dummheiten zu sagen oder zu machen, an den Vorsatz, stumm zu bleiben und sie nur anzuschauen, um wenigstens die Erinnerung an ihr Wesen heimzubringen. Aber durch ihre Gegenwart überkommt die Sinne eine Art Taumel. Wie ein Verrückter fühlt man sich zu Sonderlichkeiten verleitet; man hat die Empfindung, zwei Seelen zu haben; die eine befiehlt, irgend etwas zu tun, und die andere heißt es falsch.

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_057.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)