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bei der geringsten Zerstreutheit und Mutlosigkeit mit einer Niederlage enden muß. Dann sind uns für lange Zeit die Träumereien der Phantasie vergiftet und unser Selbstgefühl ist uns genommen. Man sagt sich: „Es gebricht mir an Geist, ich habe keinen Mut.“ Aber niemand hat vor einem geliebten Wesen Mut, oder man liebt es schon nicht mehr recht.

Die geringe geistige Sammlung, die man trotz aller Mühe aus den Träumereien der Kristallbildung noch gerettet hat, ist schuld daran, daß man in den ersten Plaudereien mit der geliebten Frau eine Unmenge von Dingen heraussagt, die keinen Sinn haben oder gerade das Gegenteil dessen ausdrücken, was man denkt, oder, was noch viel schmerzlicher ist, daß man seine wahren Gefühle übertreibt und sie dadurch in ihren Augen lächerlich macht. Da einem ein unbestimmtes Gefühl sagt, daß man auf die eigenen Worte nicht genug achtet, so fängt man unbewußt an, seine Ausdrücke sorgfältiger zu wählen und zu künsteln. Schweigen will man auch nicht, weil Stillsein verlegen macht und man dann noch viel weniger an die Geliebte zu denken vermag. Man sagt also mit ernster Miene eine Menge von Dingen, die man gar nicht ernstlich glaubt und deren Wiederholung einen in starke Verlegenheit brächte; man versagt sich hartnäckig die Gegenwart der Geliebten, nur um noch mehr der ihre zu sein. Als ich zum ersten Male die Liebe kennen lernte, verleitete mich diese Verworrenheit meines Innern beinahe zu dem Wahne, daß ich gar nicht liebe.

Die Feigheit der Rekruten und ihr Mittel, der Angst dadurch Herr zu werden, daß sie blindlings in das stärkste Feuer hineinrennen, begreife ich jetzt völlig.

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_054.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)