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Nach dieser Einleitung will ich getrost an die Darlegung der Tatsachen gehen, die man nach meiner Überzeugung in Paris selten beobachtet hat. Paris ist zwar unbestritten die erste Stadt der Welt; aber Orangen trifft man dort nicht unter freiem Himmel an, wie in Sorrent. Und in Sorrent war es, der Vaterstadt Tassos, am Golf von Neapel, in halber Höhe über dem Meere, in einer Lage, die noch malerischer ist, als die von Neapel selbst, wo ich diese Betrachtungen niedergeschrieben habe.

Wenn wir wissen, daß wir die Frau, die wir lieben, am Abend sehen werden, so macht die Erwartung dieses großen Glücks die Zeit bis dahin unerträglich. Ein verzehrendes Feuer läßt uns zwanzig Dinge anfangen und wieder beiseite legen. Alle Augenblicke sehen wir nach der Uhr und sind froh, sie einmal zehn Minuten lang nicht herausgezogen zu haben. Endlich schlägt die heißersehnte Stunde. Vor dem Hause der Geliebten, wenn wir schon an die Tür klopfen wollen, wünschen wir auf einmal, sie nicht anzutreffen; und doch würde uns das, wenn wir es uns überlegen, betrüben. Mit einem Worte: die Erwartung, sie zu sehen, erhält plötzlich einen unangenehmen Beigeschmack.

Das sind Dinge, die den Philister zu dem Ausspruche veranlassen, die Liebe sei unvernünftig.

Der Grund ist, daß unsere Phantasie dem schönen Reich der Träume entrissen ist, wo nur Seligkeit herrscht, und wieder der rauhen Wirklichkeit gegenübersteht.

Eine zarte Seele weiß wohl, daß wir uns beim Anblicke der Geliebten in einen Kampf einlassen, der

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_053.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)