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am Orangenbaume, der nur in Italien und Spanien gedeiht und zu seiner richtigen Höhe wächst. Um anderswo verstanden zu werden, müßte ich die Tatsachen verkleinern.

Sicherlich würde ich das auch tun, wenn ich im geringsten darauf ausginge, ein Buch für den allgemeinen Geschmack zu schreiben. Da mir aber der Himmel literarische Begabung versagt hat, habe ich lediglich die Absicht, mit rein wissenschaftlicher Genauigkeit und Sachlichkeit gewisse Tatsachen zu beschreiben, deren unfreiwilliger Zeuge ich durch längeren Aufenthalt im Lande der Orangen wurde. Friedrich der Große und jeder andere bedeutende Nordländer, der nie Gelegenheit gehabt hat, Orangenbäume unter freiem Himmel zu sehen, würde sicherlich die folgenden Tatsachen bezweifeln, und zwar mit vollem Rechte. Ich sehe das sehr wohl ein und weiß auch, warum es so ist.

Meine offenherzige Erklärung könnte hochmütig klingen; darum füge ich folgende Betrachtung hinzu.

Wir schreiben auf gut Glück, jeder was er für wahr hält, und jeder versucht dabei, dem anderen Unwahrheiten nachzuweisen. Für mich sind unsere Bücher wie Lotterielose; mehr Wert haben sie wirklich nicht. Erst die Nachwelt, die sie entweder vergessen hat oder neu herausgibt, weiß, welches Los gewonnen hat. Bis dahin hat keiner von uns, die wir doch alle unser Bestes und das, was uns am wahrsten erschien, niedergeschrieben haben, irgendwelches Recht, sich über den anderen lustig zu machen, höchstens in drolliger Satire, denn die hat immer ihre Berechtigung, zumal wenn sie geistreich ist.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_052.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)