Seite:Ueber die Liebe 023.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


neben ihr gesessen, dreimal hat er sie auf der Straße gegrüßt.

Eines Abends hat er ihr beim Spiel die Hand geküßt. Seitdem duldet sie es nicht mehr, unter keinem Vorwande und sogar auf die Gefahr hin, auffällig zu erscheinen, daß man ihr die Hand küßt.

Bei einem Manne würde man ein derartiges Benehmen weibische Liebe nennen.


9. Kapitel

Als Beweis für die Kristallbildung will ich ein paar kleine Geschichten erzählen.

Eine junge Dame hört ihren Vetter Eduard, der eben aus einem Feldzuge heimkehrt, als einen äußerst vornehmen jungen Mann preisen. Man versichert ihr, er liebe sie schon vom Hörensagen, er wolle sie jedoch einmal sehen, ehe er sich erkläre und bei ihren Eltern um sie anhalte. Zufällig fällt ihr nun in der Kirche ein Fremder auf, den jemand Eduard ruft. Sie denkt nur noch an ihn und verliebt sich in ihn. Acht Tage später trifft der richtige Eduard ein; es ist ein anderer, als der in der Kirche. Das Mädchen erbleicht und würde für ihr Leben unglücklich werden, wenn man es zwingen würde, ihn zu heiraten.

Dergleichen heißt bei gedankenlosen Menschen die Unvernunft der Liebe.

Ein freigebiger Mann erweist einem armen Mädchen mehrfach große Wohltaten. Er besitzt hervorragende Eigenschaften, und es will sich in der Tat Liebe entspinnen. Er trägt einen schlecht gebügelten

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_023.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)