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Achtzehnjährigen erträumte, so ist auch die zweite Liebe immer an Schein und Wert geringer.“

„Nein, gnädige Frau,“ entgegnete ich, „das Mißtrauen, das mit achtzehn Jahren nicht vorhanden ist, verleiht unzweifelhaft der späteren Liebe eine besondere Färbung. In der ersten Jugend gleicht die Liebe einem gewaltigen Strome, der alles mit seinen Fluten fortreißt und dem nichts Widerstand leistet. Eine feinfühlige Frau dagegen kennt sich mit achtundzwanzig Jahren genau. Sie weiß, daß man, falls überhaupt Glück irgendwo im Leben zu finden ist, zuerst bei der Liebe anfragen muß. In dem bedrängten Herzen entbrennt also ein harter Kampf zwischen Liebe und Mißtrauen, so daß die Kristallbildung nur langsam vorwärts schreitet. Geht sie aber aus dieser schweren Prüfung, in der das Herz mit jedem Schlage die größten Gefahren besteht, als Siegerin hervor, so gerät sie tausendmal herrlicher und fester, als bei der Liebe einer Achtzehnjährigen, die unter der Sonne der Jugend alles als glückliches und fröhliches Spiel auffaßte.

„Die Liebe wird also weniger heiter, aber leidenschaftlicher sein.“[1]

Dieses Gespräch – es war in Bologna – widersprach dem, was mir so klar schien, und führte mich so recht zu der Einsicht, daß ein Mann eigentlich nichts Gescheites über die Vorgänge in der Tiefe einer feinfühlenden Frauenseele zu sagen weiß. Eine Kokette durchschauen wir Männer eher, weil wir selbst sinnlich und eitel sind.

Die Verschiedenartigkeit in der Entstehung der Liebe bei den beiden Geschlechtern rührt entschieden aus


  1. [343] Epikur sagt, die Unterscheidung sei zum Besitze des Genusses nötig.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_020.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)