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Weib jene süßen Augenblicke in der Phantasie mit Muße immer und immer wieder durch.

Da die Liebe an festbewiesenen Dingen zweifelt, so ängstigt sich eine Frau, die vor der Hingabe geschworen hätte, ihr Verehrer sei über alles Gemeine erhaben, sobald sie ihm nichts mehr zu versagen hat, ob er nicht vielleicht nur ein Weib mehr auf die Liste seiner Eroberungen setzen wollte.

Jetzt erst entsteht die zweite Kristallbildung, die viel stärker ist, als die erste, weil sie von Furcht begleitet wird.

Sie fehlt vollständig bei leichtfertigen Frauen, denen alle romantischen Gedanken fern liegen.

Das Weib glaubt sich von der Königin zur Sklavin erniedrigt. Dieser Zustand der Seele und des Geistes wird durch die Betäubung der Nerven begünstigt, die ihre Ursache im sinnlichen Genuß hat. Je seltener dieser ist, um so fühlbarer sind seine Folgen. Eine Frau träumt bei ihrer geistlosen Stickerei, die nur die Hände beschäftigt, von dem Geliebten, während er mit seiner Schwadron über die Ebene galoppiert und in Arrest kommt, wenn er eine falsche Bewegung kommandiert.

Ich glaube also, die zweite Kristallbildung ist deshalb bei den Frauen bedeutend stärker, weil Furcht und Zweifel ihnen näher liegen. Ferner werden bei ihnen Eitelkeit und guter Ruf in Mitleidenschaft gezogen und vor allem haben sie weniger Zerstreuungen, als die Männer.

Eine Frau ist nicht daran gewöhnt, sich durch den Verstand leiten zu lassen, während ich als Mann mich täglich sechs Stunden in meinem Berufe mit

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_017.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)