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7. Es beginnt die zweite Kristallbildung. Wie Diamanten bilden sich die Bestätigungen des Gedankens: „Sie liebt mich.“

In jeder Viertelstunde der Nacht, die dem ersten Zweifel folgt, und nach Augenblicken des tiefsten Unglücks redet sich der Verliebte ein: „Sie liebt mich doch“, und die Kristallbildung fördert stets neue Reize zu Tage, bis mit einem Male neuer Zweifel den Liebenden mit teuflischen Augen anstarrt und ihn wieder ganz niederdrückt. Seine Brust atmet kaum mehr; er fragt sich: „Liebt sie mich auch wirklich?“ In diesem bald freudevollen, bald qualvollen Entweder-Oder fühlt der Verliebte lebhaft: „Sie würde mir Freuden gewähren, wie sie kein anderes Weib auf Erden geben könnte.“

Gerade die Handgreiflichkeit dieser Wahrheit, wo wir gleichsam am äußersten Rande eines grausigen Abgrundes schreiten und mit einer Hand schon das seligste Glück erfassen, verleiht der zweiten Kristallbildung im Vergleiche zur ersten einen viel tieferen Gehalt.

Der Liebende schwankt beständig zwischen drei Gedanken hin und her:

1. Sie hat alle erdenklichen Vorzüge,

2. sie liebt mich,

3. wie fange ich es an, um von ihr den klarsten Beweis der Liebe zu erringen?

Ein herzzerreißender Augenblick einer jungen Liebe ist aber der, wo der Liebende merkt, daß er einen gründlichen Fehler begangen hat und er ein Stück des entstandenen Kristalls wieder zerschlagen muß.

Dann zweifelt er an der Kristallbildung überhaupt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_009.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)