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1. Von den Arten der Liebe


Ich suche mir klar zu werden über jene Leidenschaft, die stets, wenn sie sich aufrichtig äußert, das Kennzeichen der Schönheit trägt.

Es gibt vier Arten der Liebe.

Erstens: die Liebe aus Leidenschaft; es ist die der portugiesischen Nonne, die der Heloïse zu Abälard.

Zweitens: die Liebe aus Galanterie, die in Paris um 1760 herrschte, wie wir sie in den Memoiren und Romanen dieser Zeit finden, bei Crebillon, Lauzun, Duclos, Marmontel, Chamfort, Frau von Epinay und anderen.

Sie ist wie ein Gemälde, auf dem alles bis in die Schatten hinein rosenfarbig sein soll, in das unter keinem Vorwande etwas Häßliches geraten darf, um nicht gegen die Sitte, den guten Ton und das Zartgefühl zu verstoßen. Ein Mann von guter Herkunft weiß im voraus genau, wie er sich in den verschiedenen Phasen dieser Liebe zu verhalten hat und was ihm in jeder einzelnen bevorsteht. Da es hierbei keine Leidenschaft und nichts Unerwartetes gibt, hat sie oft mehr Zartgefühl, als die wahre Liebe, denn sie ist immer geistreich. Sie ist wie eine hübsche, doch kalte Miniatur im Vergleiche zu einem Bilde der Carracci, und während uns die Liebe aus Leidenschaft alle äußeren Vorteile vergessen läßt, weiß die Liebe aus Galanterie

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_002.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)