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Alte Weltbühnen

Manchmal, nachts, blättere ich in alten Weltbühnen. Ich habe so ziemlich alle: einzeln, in roten Heften, deren Farbnuance des Umschlags schwankt, und ernst gebunden, in dicken roten Leinenüberzügen. Und ich blättere …

Zuerst suche ich mir alle Polgars zusammen. Fast von Anfang an ist er da – und ich schmunzle im Geist noch einmal alle Wiener Theaterpremieren durch, die er mit seiner bitter-heitern Gegenwart beehrt hat. Und ich lese seine himmlische Literaturgeschichte: „Wie der Goethe entstand“, die noch lustiger ist als das entzückende kleine Spiel der beiden Dioskuren Polgar und Friedell. Und ich lese seine heiterste und bunteste Skizze „Scharlach“ (nur für Kenner!) – und ich muß lachen, ganz wie beim erstenmal … Und ich lese S. J., wie der unter der Berliner Lämmerherde der Schohspieler herumwütete und sie schlachtete und fraß und wonnesam brummte, wenn er den Bauch voll hatte – und lese seine leisen Locktöne zu Reinhardt herüber, als er den noch uneingeschränkt liebhaben konnte … Und ich lese – entschuldigen Sie – mich selbst.

Das heißt: ich lese mich eigentlich gar nicht. Ich erinnere mich nur. Ich erinnere mich, wie das gewesen ist, als ich dies Gedicht da schrieb und jenes – was für Zeiten das waren (und was für Honorare es damals gab), und welche Damen ich in mein Herz geschlossen hatte. Es ist wie eine kleine Biographie, diese Weltbühne – ich kann mir an den Fingern abzählen, wie es alles gelaufen ist mit mir. Gibt es wohl

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Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Ernst Rowohlt, Berlin 1928, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_249.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)