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Angeklagten braucht nichts nachgewiesen zu werden, Zeugenaussagen fallen fort oder werden doch wesentlich vereinfacht, und die ganze Sache kann rasch zu Ende sein. Der rechtlich unzulässige Satz beruht ferner auf der kindlichen Annahme, daß Reue eine simple Empfindung sei, jederzeit herzustellen, jederzeit greifbar, und solche Annahme entspringt eben dem gottähnlichen Getue von Funktionären, die da glauben, sie hätten das Recht zu strafen, das heißt also: moralische Urteile zu fällen wie jenes imaginäre Wesen, das die Zeugen im Eid anrufen, weil sie – entgegen den Bestimmungen – meist niemand darauf aufmerksam macht, daß diese religiöse Formel durchaus vermeidbar ist. Der Richter hat aber lediglich die Aufgabe, die Gesellschaft, so wie sie heute ist, vor Menschen zu schützen, die die Sicherheit dieser Gesellschaft bedrohen. Davon ist in Moabit und am Alexanderplatz nichts zu merken. Dort wird gestraft. Wie wird gestraft –?

Aus einer einzigen Sitzung:

Ein Schupomann nimmt einen Betrunkenen auf die Wache mit; der Betrunkene fühlt sich, ob zu recht oder unrecht, zu hart angefaßt und bittet während der Sistierung die Umstehenden, ihm Zeugenadressen aufzuschreiben. Der Richter: „Das wäre ja noch schöner, wenn jeder Sistierte unterwegs auf dem Wege zur Wache Anträge stellen könnte!“ Falsch: Abgesehen von der Papierredensart, die einen Besoffenen im Rinnstein Anträge stellen läßt, hat natürlich jeder das Recht, sich Zeugenaussagen zu erbitten. Der Richter zum Angeklagten: „Erst betrinken Sie sich, und dann benehmen Sie sich dem Beamten gegenüber disziplinwidrig!“ Falsch: Der Mann ist dem Beamten überhaupt keine Disziplin schuldig. Wir leben nicht in einer Reichswehrkaserne, und das einzige, was ein Polizeibeamter bei einer Sistierung verlangen kann, ist etwas Negatives: nämlich das Fehlen von Widerstand

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Berlin: Ernst Rowohlt, 1928, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_111.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)