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Dorf Berlin

„Eine Großstadt?“ sagte meine greise Freundin Lisa, als sie aus Paris zurückkam, „eine Großstadt? Kinder, auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner –!“ Das könnte wohl sein.

*

Frühmorgens, beim ersten Hahnenschrei, erhebt sich der Großbauer Wresczynski von seinem kargen Strohlager. Die Mistforke in der nervigten Faust, ruft er Weib und Kind zu: „Auf! Auf! Die Sonne vergoldet schon den Synagogenknopf!“ und geräuschvoll poltert er durchs einfache Bauernhäusel, das sich, mit Stroh gedeckt, an der Leibnizstraße erhebt. Draußen gluckert der freundliche Bach, umwogen die Bananenfelder und jungen Gemüsebeete den stolzen Besitz, die mächtigen Bologneser Wachthunde bellen, nationale Ochsen brüllen, und demokratische Schafe wandeln gesenkten Hauptes auf die magere Geschäftsweide. Die Bäuerin tritt auf die Schwelle und sieht frohgemut in die weite Landschaft: vom Lunapark bis zum Nelsonberg eine einzige üppige und fruchtbare Gegend. Der Hafer blüht 354 fob, die milde Kuh blickt verächtlich in ein Faß mit Margarine, und die Schweine wühlen behaglich in der weichen Streu, die man ihnen aus den Blättern der Deutschen Tageszeitung bereitet hat. Wo sind die Hühner? War der Fuchs im Hühnerstall? Aber Fuchs ist doch in Marienbad – nein, die Hühner sind schon frühmorgens auf den Geflügelmarkt gegangen, die guten Tiere, und haben sich da im Preis etwas heraufsetzen lassen. Erleichtert atmet die Großbäuerin auf.

Die Dorfkinder eilen in die Schule, und bald hört man die kleinen Stimmchen aus dem Schulfenster singen:

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Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Berlin: Ernst Rowohlt, 1928, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_030.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)