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     Es ist das eig’ne Blut, das uns hinaufsteigt

In’s Aug’, wodurch mit schönem, rothen Schimmer
Bekleidet werden all die Rosenblätter,
Jungfrauenwänglein, Sommerabendwölkchen,
Und gleiche Spielerey’n, die uns entzücken.

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Ich hab’ die rothe Brille abgelegt –

Und sieh’! welch schlechtes Machwerk ist die Welt!
Die Vögel singen falsch; die Bäume ächzen
Wie alte Mütterchen; die Sonne wirft,
Statt glüh’nder Stralen, lauter kalte Schatten;

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Schamlos, wie Metzen, lachen dort die Veilchen;

Und Tulpen, Nelken und Aurikeln haben
Die bunten Sonntagsröckchen ausgezogen,
Und tragen ihr geflicktes, graues Hauskleid.
Ich selbst hab’ mich verändert noch am meisten;

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Kaum kann ein Mädchensinn sich so verändern!

Ich bin nur noch ein knöchrichtes Skelett;
Und was ich sprech’, ist nur ein kalter Windstoß,
Der klappernd zieht durch meine trocknen Rippen.
Das kluge Männlein, das im Kopf’ mir wohnte,

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Ist ausgezogen, und in meinem Schädel
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Heinrich Heine: Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo. Dümmler, Berlin 1823, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tragoedien_nebst_einem_lyrischen_Intermezzo_211.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)