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     XXII.

     Die Linde blühte, die Nachtigall sang,
Die Sonne lachte mit freundlicher Lust;
Da küßtest du mich, und dein Arm mich umschlang,
Da preßtest du mich an die schwellende Brust.

5
     Die Blätter fielen, der Rabe schrie hohl,

Die Sonne grüßte verdrießlichen Blicks;
Da sagten wir frostig einander: „Lebwohl!“
Da knixtest du höflich den höflichsten Knix.


     XXIII.

     Wir haben viel für einander gefühlt,
Und dennoch uns gar vortrefflich vertragen.
Wir haben oft „Mann und Frau“ gespielt,
Und dennoch uns nicht gerauft und geschlagen.

5
Wir haben zusammen gejauchzt und gescherzt,

Und zärtlich uns geküßt und geherzt.
Wir haben am Ende, aus kindischer Lust,
„Verstecken“ gespielt in Wäldern und Gründen,
Und haben uns so zu verstecken gewußt,

10
Daß wir uns nimmermehr wiederfinden.
Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Heine: Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo. Dümmler, Berlin 1823, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tragoedien_nebst_einem_lyrischen_Intermezzo_087.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2016)