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An ihre Schwester Marie.
Neuendettelsau, 20. Oktober 1891

 Meine liebe Marie, laß Dir sagen, daß es ein herrlicher, reicher Sonntag gestern war. Zwei gewaltige, mächtige Predigten hat unser Herr Rektor gehalten mit leuchtendem Blick und manchmal durchdringender Stimme, vormittags über das Evangelium, nachmittags über die Epistel. „Sei streng gegen dich“, so hieß es am Nachmittag, und man merkte etwas von dem Asketen durch. Es war aber oft wunderbar schön. Ach, wie soll ich es Dir alles wiedergeben! Er ist ein Gottesmann voll Geist und Kraft und Leben und verzehrendem Eifer, aber ich habe noch so viel Angst vor allem. Doch will ich getrost an Gottes Hand gehen, Er hat mich noch nie lassen zu Schanden werden. Ein Gedächtnis hat der neue Herr Rektor! Er spürt, merkt, versteht alles im Augenblick. Zwei Schülerinnen in der Industrieschule sollen sofort ihre Haarfrisur ändern: „Ich liebe das nicht“, heißt es ganz einfach. Am Freitag hatten wir einen Abend mit ihm, da sprach er von den beiden Dionysius, die im Kalender stehen, und dann war es ein freies Gespräch. Es ist alles hochinteressant, und Schwester Anna Reimherr sagte: „Der Kirchenschlaf hat aufgehört.“ Am Samstag kam ein Schreiben von Himmelkron, das zu einer langen Darlegung meinerseits Anlaß gab. Er stand zunächst sehr bedenklich dazu: „Ohne die rechten Kräfte!“ Vielleicht sterbe ich, ehe es in die großen, weiten Bahnen geht. Doch lebe ich auch noch ganz gern. Bete nur recht ernstlich wegen Himmelkron und Bruckberg. Such unserm neuen Herrn Rektor das Bild unseres seligen Hirten recht klar zu machen; es ist ihm durch allerlei Wirrwarr verdunkelt.

 Ich könnte Dir noch viel sagen, aber es ist genug. Das elende, arme, sündige Herz ist das Schlimmste bei allem. So Gott will, gehe ich heute nach Marienberg und Zerbst. Ich hab’s nun einmal versprochen, so will ich es doch tun. Ich komme vor Sonntag, so Gott will, wieder zurück.

 „Ein bis zwei Jahre müßten Sie die Stellenbesetzungen doch allein besorgen“, sagte Herr Rektor heute. Das verneinte ich ihm aber entschieden. Schwester Gertrud Hahn besucht er fleißig. Herr Doktor sagte mir heute, daß es wohl sehr rapid mit ihr abwärts gehe.

 Grüße alle Deine Schwestern, Deine Pfleglinge und Martin.

Deine Therese.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/83&oldid=- (Version vom 8.8.2016)