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An Schwester Charlotte Kollmann.
Neuendettelsau, 29. Mai 1891

 Liebste Charlotte, komm nur morgen; es ist mir sehr recht, wenn Du kommst. Unser liebster Vater hatte heut nachmittag viel Unruhe, während er vormittags so gar still – mir schien es fast, schon wie sterbend – dalag. Es ist große Zeit jetzt; ich möchte recht stille sein, daß Sein Geist wirken und wehen kann. Betet nur immer und immer wieder um Seines Geistes allmächtige Wirkung an allen Seelen. Heute morgen hat Herr Rektor ein herrliches Bekenntnis abgelegt, daß er auf das, was er gelehrt und gepredigt, auch sterben wolle. Frau Rektor hat’s gleich nachher wörtlich aufgeschrieben.

In herzlicher Liebe Deine Therese.


An Schwester Magdalene Wucherer.
Neuendettelsau, 2. Juni 1891

 Meine liebe Schwester, es war mir wie ein Trostes- und Freudentropfen, der in unsere Trübsal hereinfiel, als Dein lieber Brief kam. Wir stehen an einem großen Abschnitt unserer Anstaltsgeschichte, und trübe Bilder können auftauchen, wenn wir an die Zukunft denken. Da ist es süßer Trost, wenn der Herr uns sagen läßt, auch durch solche Liebesopfer sagen läßt: Ich will bei euch bleiben und Meinen Segen nicht von euch wenden. Mir ist gerade jetzt der Gedanke an die Gründung von Filialen ein überaus tröstlicher. Deshalb hab herzlichen Dank für Dein Opfer. Ich habe es auch schon nach Himmelkron wissen lassen. Es wird Herrn Pfarrer Langheinrich eine Ermutigung sein, wenn ein so großes Geschenk auf einmal kommt.

 Aber nun ist unser nächster Blick nicht nach Himmelkron in Oberfranken gerichtet, sondern nach der Himmelskrone, die unserm liebsten Hirten zuteil werden soll, wenn er ausgelitten und ausgestritten hat. Noch immer verzieht der Herr, noch immer ist’s, wie wenn die Seele zurückgehalten würde von dem Flug nach der ersehnten Heimat. O wie wird er getröstet werden, unser lieber Vater, nach so viel Leid! Die arme Frau Rektor kann fast nicht mehr und die armen, lieben Kinder. Uns allen aber segne der Heiland diese Zeit der Heimsuchung, daß Er nicht umsonst die Frucht bei uns suche.

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Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/69&oldid=- (Version vom 8.8.2016)