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Frau Oberin erzählt:

 Unser Passionsbuch[1] wurde nach Herrn Rektor Meyers Tod von Herrn Konrektor Draudt zusammengestellt. Die Grundgedanken gehen auf Herrn Pfarrer Löhe zurück; Herr Rektor Meyer hat sie ausgestaltet. Die Preces hat Herr Pfarrer Müller in Fürstenau in Hessen zusammengestellt; Herr Rektor Meyer hat sie mir eines Tages diktiert.

 Die Improperien und die meisten andern Gesänge am Karfreitagabend hat schon Löhe eingeführt. Auf einen Wunsch von ihm hin stiftete Frau Domina von Veltheim aus Marienberg ein heiliges Grab, das als Gegenstück zur Weihnachtskrippe hauptsächlich für die Dorfkinder vermeint war, aber auch von den Anstalten aus im Zug und einzeln besucht wurde. „So wie ich haben die Kriegsknechte ausgesehen“, sagte Herr Pfarrer Löhe einmal zu den Kindern, als er in einem seiner letzten Jahre im Pelzmantel neben dem Grab saß. Herr Rektor Bezzel schaffte das Grab ab, weil er „nicht naiv genug“ dafür war, wie er sagte.

 Als die Anstaltsgemeinde noch alle ihre Gottesdienste im Betsaal hielt, kam einmal Schwester Doris Braun mit Rechnungssorgen zu Herrn Pfarrer Löhe und sagte ihm, daß das Geld unmöglich reichen könne für die vielen Kerzen, die jeden Abend im Vespergottesdienst gebrannt würden. „So halten wir unsern Abendgottesdienst nachmittags um drei Uhr“, bestimmte Herr Pfarrer Löhe, und er meinte, das sei eine recht geeignete Stunde, weil um drei Uhr der Tag beginnt sich zu neigen und weil es auch die Stunde sei, in der die Kinder Israel ihr Abendopfer brachten. Aber wenn auch die Schwestern alles für gut hielten und glaubten, was Herr Pfarrer sagte – ich glaube, wenn Herr Pfarrer gesagt hätte, die Erde sei viereckig, wir hätten es fast geglaubt –, diesmal konnten sie sich doch nicht einverstanden erklären. Eine Schwester sagte: „Da wird man wieder hungrig bis zum Abend.“ „Dann müssen wir im dunklen Betsaal Abendgottesdienst halten und auswendig singen“, meinte Herr Pfarrer. Das geschah auch. Aber


  1. Friedrich Meyer, Die Passion unsers Herrn Jesu Christi in Gottesdiensten für die Fastenzeit.
Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/272&oldid=- (Version vom 10.11.2016)