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An die Einsegnungsreihe vom 25. Juli 1909.
Neuendettelsau, den 26. August 1915

 Meine lieben Schwestern, ich danke für Euer Opfer in der lieblichen Fassung, das von einem prächtigen Blumenstock und schön geschriebenen Spruch begleitet war. Ich fragte, ob es wohl den Spenderinnen recht wäre, wenn ich die Gabe zu etwas Bleibendem verwenden würde. Ich habe nämlich seit Jahren in aller Stille etwas gesammelt, was einmal eine Stiftung für eine Freistelle in unserm Schulhaus werden sollte, die dann einer bayerischen Pfarrerstochter zu gut käme. Nun bin ich ganz nahe am Ziel und habe eine große Freude darüber, und Ihr habt auch dazu geholfen. Gott wolle es segnen.

 Zwei Ereignisse aus der allerletzten Zeit laßt mich Euch gegenüber in diesem Brief erwähnen und mit der Erzählung davon besonders diejenigen grüßen, die in der Ferne weilen.

 Den 16. August werden diejenigen nicht vergessen, die diesen Tag mit erlebt haben. Da wurde der einzige geliebte Sohn unsers seligen Herrn Rektors, Herr Pfarrer Ernst Meyer, hier begraben. Wir holten die Leiche früh 9 Uhr an der Bahn ab. Dann wurde der Sarg nach dem Wunsch des Entschlafenen in unsere Kirche gebracht, wo vor 24 Jahren auch die sterbliche Hülle des Vaters gestanden. Man sang das Lied: „Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr“, Herr Rektor las die Lektion 1. Kor. 15 und betete mit uns. Dann wurde der Sarg ins Leichenhaus gefahren. Nachmittags fand die Aussegnung in der gewohnten Weise statt, und dann umstanden wir mit den betrübten Angehörigen die beiden Gräber. Man spürte es, wie das tiefe, große Weh vom weiten Kreis mitempfunden wurde. Wir standen um das geöffnete Grab wie eine große Familie. Herr Rektor las den vom Seligen selbst bestimmten Text: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde“ und hielt die Grabrede, die sich voll Ernst und Trost in die Gemüter legte. Am Schluß sang die große Gemeinde, gleichfalls auf Wunsch des Entschlafenen: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt.“ Die Sonne leuchtete freundlich über dem stillen Gottesacker, der so viele sterbliche Hüllen von geliebten Menschen birgt, und es war

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Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/216&oldid=- (Version vom 24.10.2016)